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Die Verstorbenen wohnen unter uns

Zum 30. Todestag von Günther Anders: In »Die Totenpost« beschäftigt er sich poetisch mit seinen Vorfahren

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 4 Min.

Aus verstaubten Kartons und Boxen ist schon viel große Literatur entstanden. Zuletzt etwa sehr anschaulich zu beobachten in Lukas Bärfuß’ ingeniösem Buch »Vaters Kiste«, in dem er sich noch einmal auf Basis einiger entdeckter Dokumente seiner schwierigen Geschichte mit dem titelgebenden Mann, einem Spieler und Hallodri, widmet.

Zu den Klassikern könnten auch bald 33 Elegien aus dem Nachlass des Schriftstellers und Sozialphilosophen Günther Anders zählen, die nun unter dem Titel »Die Totenpost« und mit einem aufschlussreichen Nachwort von Alexander Knopf erschienen sind. Dass sie entdeckt und von den Leser*innen nun zum 17. Dezember, dem 30. Todestag von Anders, mit Faszination gelesen werden können, verdankt sich – wie so oft in derlei Fällen – dem Zufall. Denn 1946 erhielt der damals schon in die USA emigrierte Autor sieben Fässer mit Briefen und Papieren seiner Ahnen, nachdem sie von seinen Eltern, den bekannten Psychologen William und Clara Stern, knapp zehn Jahre zuvor aufgegeben worden waren.

Ihr Sohn Günther hatte für seine Veröffentlichungen den Nachnamen Anders gewählt. Er nahm den Antisemitismus der Nazis sehr ernst und überzeugte seine jüdischen Eltern, Deutschland zu verlassen. Sie gingen 1933 zuerst in die Niederlande, während er mit seiner damaligen Ehefrau Hannah Arendt nach Paris zog und von dort 1936 weiter nach New York. Seine Eltern waren schon 1935 in den USA angekommen, wo William Stern eine Professur in Durham in North Carolina antrat. Kurz vor ihrer Überfahrt hatten sie die sieben Fässer auf den Weg gebracht, die aber ihr Ziel nicht erreichten. Als Günther Anders diese verspätet in Empfang nahm, war sein Vater schon tot; er starb 1938 in Durham.

Was passiert, wenn uns die Vergangenheit geradezu schockartig einholt? Wenn sie auf einmal buchstäblich im Raum steht? Nur wenige Tage hätte er sich mit dem Inhalt der Fässer intensiv beschäftigt, schreibt Anders. Das Vorliegen unterschiedlicher, im Band ebenso abgedruckter Fassungen deutet allerdings auf eine andere Version der Geschichte hin, nämlich auf ein langes Nachwirken der Studien des Materials. Wie dem auch sei: Hervor ging aus der Lektüre eine so liebevolle wie bisweilen ironische Auseinandersetzung mit den Verstorbenen. Aus der Ferne treten sie in die Gegenwart, erweisen sich als stumme Bewohner der New Yorker Wohnung. Dass deren unverhoffte Präsenz den ohnehin schon labilen Anders belasten, gibt er schon in einem der ersten Texte zu erkennen, ist doch darin von den »Unerwünschte[n], / sehr unwillkommene[n] Gäste[n]« die Rede.

Aber sie lassen sich nicht abwimmeln. Sie drängen das lyrische Ich zum Fort- und Neuschreiben von nie abgeschickten Liebesbriefen. Dazwischen ereignen sich allerlei Funde, beispielsweise einer teuer bezahlten Silberkanüle oder einer blonden Locke aus der Kindheit von Anders’ Mutter. Und je mehr sich das lyrische Ich mit den Zeugnissen der Toten befasst, desto mehr verkennt es den scheinbaren Gegensatz zwischen gestern und heute. Wen zeigt etwa eine Fotografie aus der Jugend? Den Vater oder doch einen selbst? Klar ist: Die lange Reise der Fässer hat alles durcheinandergewirbelt: »Wie verschlungene / Seepflanzen hängen Jahre, die sich nie / begegnet waren und entfernteste / Geschlechter ineinander«. Der Dichter hingegen, er »sitzt […] ordnend / und entknotet: ob vielleicht / ein letztes mal die Kette noch gelingt.« Manche Geschichte fügt sich wieder zu einer Art Erzählung, andere kommen nicht über den Status des Fragmentarischen hinaus.

Allesamt eint derweil, dass ihre Protagonist*innen noch einmal Raum erhalten: in einer Poesie, die nicht vergisst und Unvollendetes konserviert. Dadurch entsteht Ewigkeit; auch das Textsubjekt in einem der letzten Gedichte betont: »Sieben Säcke / erwarten Euch im Keller«. Nachdem sich Anders dem Schmerz voll und ganz hingegeben hat, vernichtet er einen Großteil der Hinterlassenschaften und löst sich damit ein Stück weit von dem existenziellen Ballast. Man kann es nicht anders sagen: Diese Dichtung geht samt sämtlicher emotionaler Schwankungen über das Sichtbare hinaus und erschließt eine geradezu metaphysische Sphäre: voller Humor, voller Traurigkeit und mit unverstellter Ehrlichkeit!

Günther Anders: Die Totenpost. Elegien. Hg. u. komment. sowie mit einem Nachwort v. Alexander Knopf. Wallstein, 208 S., geb. 26 €.

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